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Ästhetische Ansichten von Henry van de Velde - Einleitende Analyse |
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Dank William Morris (1834 - 1896) wurde das Haus eines einfachen Menschen wiederum zu einem den Ideen eines Architekten würdigen Objekt. Seine Innenräume und Gegenstände, die sie ergänzten, vom Stuhl bis zum Spiegel, regten die Vorstellungskraft der Künstler an. Das, was uns heute als selbstverständlich erscheint, war vor mehr als 100 Jahren, genauer gesagt, von der Zeit der Renaissance an, durchaus nicht so üblich. Es gab jedoch nicht viele so wie der Engländer Morris denkende Künstler. Zu dieser Gruppe kann man mit Sicherheit Henry van de Velde zählen, der in den Jahren 1863 - 1957 lebte. Er war zwar um eine Generation jünger als der Engländer, dieser Unterschied erlaubte van de Velde aber, zu einem wahren Vorreiter der Moderne zu werden, der sich von Anfang an für die von Maschine und nicht mit der Hand geschaffene Kunst ausgesprochen hatte. Es ist hier zu erwähnen, dass das Verhältnis zur Maschine damals eine Spaltung unter den Künstlern in vielen europäischen Ländern verursachte.
Morris war van de Velde nicht bekannt. Trotzdem haben sich die ästhetischen Ansichten des Belgiers sicherlich unter dem Einfluss des Engländers entwickelt. Darauf weisen Kunsthistoriker hin, wie z.b. Nikolaus Pevsner und... Henry van de Velde selbst. Hier sollte man folgende Erklärung zitieren, die in dem ersten Band seiner 1901 in Berlin herausgegebenen Werke zu lesen ist: "Der Samen, der unsere Gemüter befruchtete, unsere Aktivität provokativ beeinflusste und eine völlige Erneuerung der Ornamentik und Form in den Dekorationskünsten einleitete, wurde zweifellos mit Hilfe und dank dem Einfluss von John Ruskin und William Morris gelegt." Wir können also annehmen, dass van de Velde, ähnlich wie Morris, um das Schicksal der Kunst besorgt war und es nicht wollte, dass das künstlerische Schaffen lediglich für wenige zugänglich wäre. Er wollte den Zugang zur Kunst demokratisieren und sie mit allen teilen. Diese Ideen und Gedanken waren das Ergebnis seiner ersten unerfüllten Künstlerliebe zur Malerei des Impressionismus. Sein Elitencharakter und ein relativ enger Empfängerkreis haben dem Künstler endgültig die Lust zum Malen benommen. In Wirklichkeit wünschte er sich eine Beschäftigung, die nicht nur einigen wenigen Kennern zugänglich wäre. Es ist zu vermuten, dass er in dem Moment seiner persönlichen Sinnkrise die Werke von Morris und dessen Umkreis entdeckte. Diese Werke bewiesen eindeutig die Notwendigkeit, den Kontakt der Künstlerarbeit mit dem Alltag aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig verneinten sie das aus dem 19. Jh. stammende Modell der künstlerischen Tätigkeit - das Malen an der Staffelei. Anstelle der schönen Künste wurde die angewandte Kunst vorgeschlagen. Ich vermute, dass solche persönliche Veranlagung wie auch die angeborene Offenheit und das Verlangen nach Gespräch mit anderen die Beweggründe waren, warum sich der Künstler dem Design und der Architektur zuwandte, die viel mehr Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und des gesellschaftlichen Dialogs boten. Eine ähnliche Vermutung äußert Pevsner in seiner ausgezeichneten Arbeit über die Vorläufer der Gegenwart. Diese Hinwendung zu der angewandten Kunst erfolgte bei Henry van de Velde im Alter von etwa 30 Jahren.
In den 90-er Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Tendenzen, die die Notwendigkeit der grundsätzlichen Erneuerung der architektonischen Formen und der Belebung der Kunst betonten, ziemlich häufig. Stark war die Kampflust gegen den damals herrschenden Eklektizismus. Eine der ersten Äußerungen über den neuen Stil veröffentlichte 1894 gerade Henry van de Velde unter dem vielsagenden Titel "Enttrümmerung der Kunst". Er forderte darin eindeutig den Verzicht auf die unnötigen Ornamente, buchstäblich und metaphorisch, und die Einführung einer reinen Struktur, die imstande wäre, den seelischen Zustand des Menschen auszudrücken, wie Traurigkeit, Freude, aber auch das Gefühl der Geborgenheit. Dem Text ist auch der Glaube des Künstlers an die Maschine als Quelle der neuen Schönheit zu entnehmen.
Zwei Jahre zuvor, 1892, wurde in Brüssel eine Ausstellung eröffnet, die die neuen Bestrebungen in der Kunst widerspiegelte. Die Exposition, an der van de Velde auch teilgenommen hatte, machte deutlich, dass die ganze daran beteiligte Gruppe von Architekten nach Vereinfachungen strebte, sowohl im architektonischen Detail, als auch in allen in der Innenarchitektur vorhandenen Formen sowie in der äußeren Gestalt des Objektes. Diese Vereinfachungen bezogen sich jedoch auf die Reduzierung des Reichtums der inneren Ornamentik und nicht auf den Verzicht auf das architektonische Detail. Diese Tendenz ist in dem 1901 von van de Velde entworfenen Folkwang Museum in Haag deutlich sichtbar. Van de Velde bezeichnet den Stil der Teilnehmer dieser Ausstellung mit einem Wort und seinen Gedanken formuliert er folgendermaßen: "Das Werk aller vier wurde gemeinsam bewertet und beschrieben - selbstverständlich durch eine ihnen allen gemeinsame Eigenschaft - "Neuigkeit". Wir wissen, dass eine der allgemein gebräuchlichen Bezeichnungen für die Sezession "Art Nouveau" war. Eine ähnliche, sehr edle Vereinfachung verwendete van de Velde in seinen Möbelentwürfen.
Um das Jahr 1895 beherrschte der neue Stil, es geht natürlich um die Sezession, alle Bereiche der Kunst, von der Architektur über die Malerei und Bildhauerkunst bis zur Druckkunst, den Schmuck, die Möbel und die Bekleidung. Seit langem hatte man keinen so allgemeinen Versuch unternommen, einen einheitlichen Stil zu schaffen, für den außerdem eine gute Zusammenarbeit der Künstler verschiedener Kunstrichtungen charakteristisch war. Dabei konzentrierten sich viele nicht nur auf den von sich gewählten künstlerischen Ausdruck. Mit Erfolg beschäftigten sie sich nicht nur mit den miteinender verwandten Kunstgebieten, wie Malerei und Grafik, sondern auch mit den anscheinend so weit voneinander entfernten wie Architektur und Möbelherstellung.
Einer von diesen auf den Geist der neuen Zeiten sensibilisierten Künstler war auch Henry van de Velde. Es gibt jedoch die Ansicht, nach der van de Velde vor allem als Reformer von Kunstgewerbe und Innenarchitektur zu betrachten sei. Diese Ansicht ist insofern nicht richtig, als sie den erheblichen Beitrag des Künstlers zur Entwicklung der architektonischen Formen, vor allem in der Zeit vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges unbeachtet lässt. Man sollte aber offen sagen, dass der Vorrang der Innenarchitektur daraus resultieren könnte, dass die Sezessionskünstler seit vielen Jahrzehnten zum ersten Mal das Problem der künstlerischen Komposition der Innenräume angesprochen haben. Und diese Tatsache ließ eben alle ihre Maßnahmen ganz außergewöhnlich erscheinen und verursachte, dass die Ausführungen vieler Entwürfe in diesem Bereich zu einem künstlerischen Ereignis wurden. So geschah es auch mit den Arbeiten van de Veldes.
Von der heutigen Perspektive aus sieht man deutlich, dass die Sezession vor allem die Angst vor der Industrialisierung des Lebens ausdrückte und den Protest der Künstler gegen die Expansion der Technik widerspiegelte. Der Kult und die Rehabilitation des Handwerks waren Symptome der Ablehnung der industriellen Formen, und der äußerste Individualismus - ein Zeichen des Widerstands gegen die aufgedrängte Typisierung. Die Sezession hatte aber den Weg zur neuen Ästhetik gebahnt und zeigte den gesellschaftlichen Sinn der Architektur. Sie war ein von inneren Widersprüchen voller Stil, der oft den Rationalismus der gegenwärtigen Technik als seinen Ausgangspunkt betrachten wollte, nicht selten aber zur Welt des Märchens und der romantischen Phantastik tendierte. Man sagt, dass die Sezession die am kürzesten dauernde Strömung in der Geschichte der europäischen Kunst gewesen sei. Manche behaupten sogar, sie sei das Synonym des schlechten Geschmacks gewesen. Andere meinen dagegen, die Sezession sei in Wirklichkeit nie untergegangen, sie habe nur mit den technischen Veränderungen die ihrer Zeit entsprechenden Formen angenommen. Solche Betrachtensweise der Tatsachen wird auch durch das Schaffen und die ästhetischen Ansichten Henry van de Veldes unterstützt. Seine Ideen wurden im Grunde genommen abgelehnt. Mit der Zeit haben sie sich vielleicht etwas abseits der Hauptströmung entwickelt, sie fanden aber auch hervorragende Fortsetzer in den Personen des Deutschen - Erich Mendelsohn, und des Niederländers - Michael de Klerk.
In der Entwicklung der ästhetischen Ansichten des Belgiers kann man zwei Perioden unterscheiden: die sezessionistische, also Art Nouveau, und die funktionale, also die Moderne. Unter den Künstlern seiner Generation vertrat der belgische Architekt ohne Zweifel die Ideen seiner Epoche. Als Schöpfer repräsentierte er sie allerdings nur zum Teil. Denn sein späteres Schaffen ließ ihn zu den Vertretern der modernistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zählen. Die Ausführung seines Entwurfs in Trebschen scheint sich im Schnittpunkt dieser zwei Tendenzen zu plazieren. Trotz gewisser sezessionistischer Akzente neigt sie deutlich zum Funktionalismus und verkündet seine späteren, rein modernistischen Lösungen. Seine eigene, neue Doktrin der in der Maschine steckenden Schönheit, die "die gewaltige Bewegung ihrer eisernen Arme" betont, weist auf die Notwendigkeit der Übereinstimmung der Form mit der Natur des genutzten Stoffes hin. Van de Velde glaubte, dass man mit Hilfe der Maschine eine neue Schönheit schaffen könne, wenn man nur zu dem die Maschine bedienenden Konstrukteur stehe. Charakteristisch ist der Bezug zur Welt der Technik und der Gebrauch der dafür typischen Bezeichnungen, was auch den Zeitgeist ausdrückt. Der 1903 herausgegebene zweite Band der Vorträge van de Veldes enthält folgende Formulierungen: "Die Ingenieure stehen vor dem Tor eines neuen Stils", "die Ingenieure sind Architekten des heutigen Tages". Die funktionale Gestaltung der Räume und Gegenstände war die Eigenschaft, auf die der Künstler einen besonderen Wert legte. Die Vereinfachung des Ornaments sollte zum Hervorheben der Funktion führen, und aus der Funktion sollte sich dann die Gestalt ergeben. Van de Velde schrieb darüber Folgendes: "Wir brauchen eine logische Struktur der Gegenstände, kompromisslose Logik in der Materialnutzung, ein offenes und stolzes Demonstrieren der schöpferischen Prozesse". Es ist zu betonen, dass, obwohl er sich auf die Welt der Technik bezog und das Wort "Ingenieur" gebrauchte, im metaphorischen Sinne jedoch, eher als Bezeichnung für einen Schöpfer als einen Mechaniker, er dem Künstler nicht das Recht auf Originalität und Individualismus verweigerte, was einige Jahre später in dem berühmten Streit mit Muthesius zum Vorschein kam. Bislang, am Anfang des 20. Jahrhunderts, sagte van de Velde voraus, dass Eisen, Stahl, Aluminium, wie auch Linoleum, Zelluloid und Zement eine große Zukunft vor sich hätten. Was Möbel und anderen Hausrat betraf, betonte er ausdrücklich die Notwendigkeit der Rückkehr zur seit langem unterlassenen Neigung zu "lebhafter, starker, heller Farbzusammenstellung, kräftigen Formen und vernünftiger Konstruktion". Außerdem lobte er die neuen englischen Möbel für ihren "systematischen Verzicht auf Dekoration".
Kehren wir jedoch zu Herman Muthesius zurück, eine für den europäischen und deutschen Modernismus sehr wichtige Gestalt, deren Motto : "Zweckmäßigkeit der Form und ihre Übereinstimmung mit dem Materialcharakter" Schönheit in den vereinfachten Formen finden ließ und Grundlage für neue Bestrebungen in der Architektur Ende des 19. Jahrhunderts war. Wie man leicht bemerken kann, deckt sich der zitierte Gedanke von Muthesius fast genau mit den Formulierungen van de Veldes. Das aber, was die beiden so dramatisch getrennt hatte, war der Bereich der schöpferischen Möglichkeiten, die dem Künstler vorbehalten waren. Dies kam zum Ausdruck in dem berühmten Streit, zu dem es 1914 in Köln während des Treffens des Deutschen Werkbundes kam.
Während des Treffens präsentierte sich Muthesius als Anhänger der Standarisierung, van de Velde dagegen - des Individualismus. Muthesius überzeugte - "Architektur und der ganze Tätigkeitsbereich des Werkbundes streben in Richtung der Standarisierung. Nur dank der Standarisierung können sie allgemeine Achtung zurückgewinnen, die sie in den Zeiten der harmonischen Entwicklung der Zivilisation genossen. Nur durch Standarisierung (...) als segensreiche Konzentration der Kräfte, kann der allgemein anerkannte und zuverlässige Geschmack erzeugt werden". "Der verzweifelte van de Velde erwiderte: "Solange im Werkbund Künstler bleiben (...), solange werden sie gegen alle vorgeschlagenen Regeln und jede Standarisierung protestieren. Der Künstler ist in seinem Wesen ein leidenschaftlicher Individualist, ein spontaner Schöpfer. Niemals ordnet er sich freiwillig der Disziplin unter, die ihn in die Normen und Regeln zwingt". Die Aussagen beider Künstler zitiere ich nach dem Buch von Pevsner. Der Streit erwies sich als sehr wichtig und fand eine breite Resonanz. Darauf machen die Autoren aller der gegenwärtigen Architektur gewidmeten Bücher aufmerksam.
Zur Erinnerung: während dieses Streites war Henry van de Velde Leiter der Weimarer Kunstgewerbeschule, deren Pädagogen mit ihrem Chef an der Spitze meinten, dass das Entwerfen ein individueller Prozess sei und der Künstler nicht zur Unterordnung unter steife Regeln gezwungen werden sollte. Diese Vorliebe für Individualismus begleitete van de Velde bis zum Ende seiner schöpferischen und pädagogischen Tätigkeit. Seine Studenten sollten neue Formen schaffen, wobei sie sich nach ihrer Intuition richten und nicht die traditionellen Lösungen als Vorbild nehmen sollten.
In demselben Jahr - 1914 - kündigte van de Velde seine Stelle als Leiter der Kunstgewerbeschule (die Ursachen der Kündigung waren nicht künstlerischer Art, es handelte sich um den in Deutschland immer stärker werdenden Nationalismus) und wies auf seine drei Nachfolger hin, darunter Walter Gropius, der die freie Stelle antrat. Van de Velde trat zurück, aber der neue Stil war bereits entstanden. Der Stil des 20. Jahrhunderts war nämlich vor 1914 entstanden und der belgische Künstler hatte dazu beigetragen. Diese Meinung vertreten viele Kunstkritiker. Der Stil wurde später lediglich beliebter und etablierte sich dank der Tätigkeit des Bauhauses, dessen Leiter im Jahre 1919 nach dem Zusammenschluss mit der Akademie der Schönen Künste und der Kunstgewerbeschule weiterhin Gropius war.
Es ist erstaunlich, warum wir, trotz der selbstverständlichen Fakten dazu neigen, Henry van de Velde eher mit der Geschichte des Bauhauses zu verbinden, das bald zum Synonym des in Europa wichtigsten Zentrum der künstlerischen Initiative wurde, als mit seinen sezessionistischen Leistungen. Eine solche Meinung scheint jedoch völlig unbegründet zu sein. Die Ideen von Gropius, der die Synthese der Künste unter der Herrschaft der Architektur voraussetzte, waren in gewissem Grad die Fortsetzung der Bestrebungen der Sezession und insbesondere derjenigen ihrer Optionen, die van de Velde vertrat und um die er kämpfte. Die Übergabe der Stelle des Schulleiters an Gropius war durchaus nicht zufällig, sondern symbolisch.
Van de Velde musste in ihm seinen begabtesten Fortsetzer sehen. Das Bewusstsein dieser Verbindung war gegenseitig. Nachdem man Gropius nach seiner künstlerischen Herkunft gefragt hatte, stellte er fest: "von allen Architekten der früheren Generation haben Louis Sullivan, Frank Lloyd Wright, Henry van de Velde und Peter Behres den größten Einfluss auf mich ausgeübt". Dieses Bekenntnis ist sehr ausdrucksvoll. Vergessen wir das nicht. Und erinnern wir uns an noch eine Meinung. Es ist die von Peter Meyer, dem Verfasser der "Geschichte der europäischen Kunst".
Er hält van de Velde für den hervorragendsten Vertreter der Architektur der Sezession, der von ihr eine eigene Art des Funktionalismus ableitete.
Henry van de Velde war sicherlich einer der bewusstesten Schöpfer der Jahrhundertwende. Er war Theoretiker und Praktiker, ein sensibler, offener und talentierter Künstler. Seine theoretischen Äußerungen enthalten bis heute interessante und erstaunlich treffende Ansichten, sogar aus der Perspektive von 100 Jahren, die seit deren Niederschrift vergangen sind. In der Zeit der totalen Invasion der Massenkultur klingt seine Stimme, die den Subjektivismus, die Intuition und den Individualismus fordert, wie eine Mahnung, ein Memento. Und diese Stimme ist durchaus gegenwärtig.
Wojciech Śmigielski
Universität Zielona Góra / Polen
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